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Murat Kay­man im BPP-Heft »Isla­mis­mus« über die Rol­le der Islam­ver­bän­de

Kaymann schreibt: Die Verwendung des Begriffs „Islamismus“ läuft stets Gefahr, Muslime und Islamisten gleichzusetzen. Im Interesse insbesondere der muslimischen Religionsgemeinschaften müsste es daher liegen, für differenzierte Klärung zu sorgen. Doch bislang versagen sie auf ganzer Linie.

Murat Kay­mann ist Jurist und Publi­zist und war von 2014 bis 2017 Jus­ti­zi­ar beim DITIB-Bun­des­ver­band. Er ist Mit­grün­der der Alham­bra-Gesell­schaft.

»Isla­mis­mus«, so die Defi­ni­ti­on des Bun­des­mi­nis­te­ri­ums des Innern und für Hei­mat, »ist eine Form des Extre­mis­mus. Unter Beru­fung auf den Islam zielt er auf die Abschaf­fung der frei­heit­li­chen demo­kra­ti­schen Grund­ord­nung der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land ab und basiert auf der Über­zeu­gung, dass der Islam Grund­la­ge für das gesell­schaft­li­che Leben und die poli­ti­sche Ord­nung sein soll­te. Isla­mis­mus pos­tu­liert die Exis­tenz einer gott­ge­woll­ten und all­ge­mein­gül­ti­gen Ord­nung, die über den von Men­schen gemach­ten gesell­schaft­li­chen Regeln und Geset­zen steht. Damit ste­hen Isla­mis­ten ins­be­son­de­re im Wider­spruch zu den im Grund­ge­setz ver­an­ker­ten Grund­sät­zen der Volks­sou­ve­rä­ni­tät, der Tren­nung von Staat und Reli­gi­on, der frei­en Mei­nungs­äu­ße­rung und der all­ge­mei­nen Gleichberechtigung.«[1]

Als wei­te­res Ele­ment nennt das Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­um Anti­se­mi­tis­mus als »einen wesent­li­chen gemein­sa­men Nen­ner in der Ideo­lo­gie des isla­mis­ti­schen Spek­trums«. Nach dem ter­ro­ris­ti­schen Angriff der Hamas auf Isra­el im Okto­ber 2023 gehe eine feind­li­che Gesin­nung gegen­über jüdi­schen Men­schen und Isra­el »inzwi­schen fast untrenn­bar Hand in Hand«. Isla­mis­ti­sche Pro­pa­gan­da för­de­re nicht nur anti­se­mi­ti­sches Gedan­ken­gut, son­dern sie for­de­re auch dazu auf, »den Gedan­ken auch Taten fol­gen zu las­sen«.

Nimmt man die­se Defi­ni­ti­on zum Aus­gangs­punkt, dann reicht das Spek­trum, in dem sich die Ideo­lo­gie des Isla­mis­mus mani­fes­tiert, von der lega­lis­ti­schen Form eines Islam­ver­ständ­nis­ses, das reli­giö­se Über­zeu­gun­gen in kon­kre­te Vor­stel­lun­gen bezüg­lich der Gestal­tung des gesell­schaft­li­chen Lebens und der poli­ti­schen Staats­form über­trägt, bis hin zum zur ter­ro­ris­ti­schen Tat berei­ten Extre­mis­mus.

Der Begriff des Isla­mis­mus ist in die­sem Sin­ne unscharf und durch sei­ne flie­ßen­den Gren­zen zu blo­ßen Glau­bens­über­zeu­gun­gen, die von der Reli­gi­ons­frei­heit gedeckt sind, in sei­ner Hand­ha­bung im gesell­schaft­li­chen Dis­kurs pro­ble­ma­tisch. Sei­ne Ver­wen­dung ist stets mit dem Risi­ko behaf­tet, dass nicht mehr zwi­schen der Zuge­hö­rig­keit zur isla­mi­schen Glau­bens­ge­mein­schaft und der Iden­ti­fi­ka­ti­on mit isla­mis­ti­schen Über­zeu­gun­gen dif­fe­ren­ziert wird. Wo hört das Mus­lim-Sein auf, und wo fängt die isla­mis­ti­sche Ein­stel­lung an? Eine kla­re Unter­schei­dung ist drin­gend not­wen­dig, damit eine Gleich­set­zung von Mus­li­men und Isla­mis­ten ver­mie­den wird.

Es wäre des­halb im Sin­ne aller Mus­li­me – und damit im Inter­es­se der Orga­ni­sa­tio­nen, die sich als mus­li­mi­sche Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten ver­ste­hen und den Anspruch erhe­ben, Mus­li­me zu ver­tre­ten –, hier für eine Klä­rung zu sor­gen. Sie müss­ten es als ihre Auf­ga­be ver­ste­hen, ihre Glau­bens­vor­stel­lun­gen deut­lich und erkenn­bar von ideo­lo­gi­schen, extre­mis­ti­schen Über­zeu­gun­gen abzu­gren­zen und die­sen Unter­schied sowohl in der eige­nen Gemein­schaft als auch in der nicht­mus­li­mi­schen Gesell­schaft zu kom­mu­ni­zie­ren.

Pro­blem­ver­drän­gung

Ein sol­ches Selbst­ver­ständ­nis ist bei den mus­li­mi­schen Orga­ni­sa­tio­nen in Deutsch­land aber nicht zu beob­ach­ten. Das Gegen­teil ist der Fall. Das Phä­no­men des Isla­mis­mus wird ver­drängt. Bereits die Ver­wen­dung des Begriffs »Isla­mis­mus« wird häu­fig pro­ble­ma­ti­siert und abge­lehnt. Aus Sicht vie­ler mus­li­mi­scher Ver­bän­de ist der Begriff schon des­halb zurück­zu­wei­sen, weil er im Wort­stamm den Begriff »Islam« ent­hält. Isla­mis­tisch begrün­de­ter Extre­mis­mus sei als Miss­brauch des Islams zu ver­ste­hen, der Islam kön­ne als abso­lut wah­re und rich­ti­ge Glau­bens­grund­la­ge nicht die Quel­le eines extre­mis­ti­schen Reli­gi­ons­ver­ständ­nis­ses sein. In die­ser Logik der mus­li­mi­schen Ver­bän­de han­delt es sich bei extre­mis­ti­schen Tätern nie­mals um »wah­re Mus­li­me«, son­dern um Täter, die von ande­ren – nicht­mus­li­mi­schen – Akteu­ren instru­men­ta­li­siert wer­den, um Mus­li­me und den Islam in Gän­ze zu dis­kre­di­tie­ren. Damit wird das Phä­no­men des isla­mis­ti­schen Extre­mis­mus voll­stän­dig exter­na­li­siert und außer­halb des eige­nen Ver­ant­wor­tungs­be­reichs ver­or­tet.

Im Umkehr­schluss begrün­det die­ses Selbst­ver­ständ­nis die Annah­me vie­ler mus­li­mi­scher Orga­ni­sa­tio­nen, ihr Glau­bens­ver­ständ­nis und ihre Glau­bens­pra­xis – mit­samt ihrer insti­tu­tio­na­li­sier­ten Arbeit, ihren orga­ni­sa­to­ri­schen Struk­tu­ren und den von ihnen ver­mit­tel­ten Inhal­ten und Grund­über­zeu­gun­gen – sei­en der bes­te Gegen­ent­wurf und die wirk­sams­te Stra­te­gie gegen Radi­ka­li­sie­rungs­ten­den­zen. Häu­fig ver­ste­hen sie schon ihre blo­ße Exis­tenz als Boll­werk gegen jeden Extre­mis­mus. Dar­über hin­aus­ge­hen­de Bestre­bun­gen der Bekämp­fung extre­mis­ti­scher Ideo­lo­gien oder gar eine als sol­che bezeich­ne­te Stra­te­gie der »Extre­mis­mus­prä­ven­ti­on« haben aus die­ser Sicht inner­halb der mus­li­mi­schen Orga­ni­sa­tio­nen kei­nen Platz, da allein die Not­wen­dig­keit einer Extre­mis­mus­prä­ven­ti­on den Vor­wurf beinhal­te, mus­li­mi­sche Gemein­schaf­ten sei­en anfäl­lig oder gar die Quel­le für extre­mis­ti­sche Ideo­lo­gien und Taten.

Gegen ein posi­ti­ves Selbst­bild ist grund­sätz­lich nichts ein­zu­wen­den. Es ent­behrt jedoch ange­sichts der tat­säch­li­chen Zustän­de inner­halb der mus­li­mi­schen Gemein­schaf­ten jeder Grund­la­ge und Glaub­wür­dig­keit; jeg­li­che Ver­ant­wor­tung für isla­mis­ti­sche Ent­wick­lun­gen zurück­zu­wei­sen, zeugt von Rea­li­täts­ver­wei­ge­rung. Mehr noch: Die Igno­ranz gegen­über extre­mis­ti­schen Inhal­ten in den – rea­len und vir­tu­el­len – mus­li­mi­schen Sozi­al­räu­men führt zu einer immer deut­li­cher wahr­nehm­ba­ren Wirk­sam­keit isla­mis­ti­scher Ein­flüs­se auf jun­ge Mus­li­min­nen und Mus­li­me. Denn die isla­mis­ti­schen Pro­pa­gan­dis­ten blei­ben – ins­be­son­de­re in den Online­me­di­en – in der von ihnen ein­ge­nom­me­nen Rol­le der ver­meint­lich authen­ti­schen und kom­pro­miss­lo­sen reli­giö­sen Auto­ri­tät kon­kur­renz­los. Ihre Erzäh­lung einer wahr­haf­ti­gen Fröm­mig­keit und ihre Ablei­tung welt­li­cher Kon­se­quen­zen aus dem von ihnen ange­bo­te­nen ideo­lo­gi­schen Islam­ver­ständ­nis blei­ben als Wahr­heits­an­spruch unwi­der­spro­chen. Ihre Deu­tung, wonach mit der The­ma­ti­sie­rung des Phä­no­mens Isla­mis­mus kei­ne extre­mis­ti­sche Ideo­lo­gie beschrie­ben wer­de, son­dern die­se als Waf­fe zur Abwer­tung des ein­zig wah­ren, des »objek­ti­ven Islam« ein­ge­setzt wer­de, erfährt von den mus­li­mi­schen Ver­bän­den kei­nen Wider­spruch. Damit aber ver­fes­tigt sich die isla­mis­ti­sche Erzäh­lung, wonach die nicht­mus­li­mi­sche Gesell­schaft in ihrem Ver­hält­nis zur mus­li­mi­schen Gemein­schaft kate­go­risch mus­lim­feind­lich sei – und eine der­ge­stalt von außen bedroh­te mus­li­mi­sche Gemein­schaft sich zwin­gend gegen ihre Fein­de zur Wehr set­zen müs­se.

Iden­ti­täts­kon­struk­tio­nen

Die­se kon­fron­ta­ti­ve Sicht auf mus­li­mi­sche Exis­tenz in Deutsch­land bil­det gegen­wär­tig ein wirk­mäch­ti­ges Fun­da­ment mus­li­mi­scher Iden­ti­täts­kon­struk­ti­on und beein­flusst mas­siv das Selbst­bild und die Selbst­ver­or­tung jun­ger Mus­li­min­nen und Mus­li­me. Ihnen wird sug­ge­riert, dass ihr mus­li­mi­sches Dasein letzt­lich nur im Wider­stand und im Kon­flikt zur nicht­mus­li­mi­schen deut­schen Gesell­schaft mög­lich sei.

Dar­an haben auch die mus­li­mi­schen Orga­ni­sa­tio­nen ihren Anteil, denen in die­sem Zusam­men­hang nicht nur pflicht­wid­ri­ges Unter­las­sen vor­zu­wer­fen ist. Es ist nicht nur ihre Untä­tig­keit und ihre Pas­si­vi­tät im Hin­blick auf die­ses kon­fron­ta­ti­ve mus­li­mi­sche Iden­ti­täts­an­ge­bot, son­dern auch ihr akti­ves Han­deln, das isla­mis­ti­sche Ten­den­zen inner­halb der mus­li­mi­schen Gemein­schaf­ten för­dert – und damit auch die poten­zi­el­le Radi­ka­li­sie­rung ins­be­son­de­re jun­ger Mus­li­min­nen und Mus­li­me.

Bei genaue­rer Betrach­tung der wich­tigs­ten mus­li­mi­schen Ver­bän­de ist fest­zu­stel­len, dass die­se – bei allen sonst vor­han­de­nen inhalt­li­chen Unter­schie­den – im Hin­blick auf ihr Ver­hält­nis zur hie­si­gen Gesell­schaft über­ein­stim­men­de Hal­tun­gen und Sicht­wei­sen erken­nen las­sen. Die­se sind im Wesent­li­chen geprägt durch die Kon­ti­nui­tät ihrer »Fremd­heits­er­zäh­lun­gen«, wonach mus­li­mi­sche Exis­tenz in Deutsch­land nicht für die­se und mit die­ser Gesell­schaft gedacht wird, son­dern im bes­ten Fall als mus­li­mi­sche Enkla­ve, als mus­li­mi­sche Dia­spo­ra in der deut­schen Frem­de. Im schlech­tes­ten Fall sehen sich die Ver­bän­de im Wider­stand zur hie­si­gen Gesell­schafts­ord­nung, die in ihrer frei­heit­li­chen, plu­ra­lis­ti­schen Prä­gung als unver­ein­bar mit mus­li­mi­schen Glau­bens­vor­stel­lun­gen begrif­fen wird.

Bei der DITIB etwa, der Tür­kisch-Isla­mi­schen Uni­on der Anstalt für Reli­gi­on, resul­tiert die Fremd­heits­er­zäh­lung aus dem Selbst­ver­ständ­nis, als Able­ger der tür­ki­schen Reli­gi­ons­be­hör­de in Deutsch­land für den Erhalt der natio­na­len, sprach­li­chen und kul­tu­rel­len Iden­ti­tät der tür­kei­stäm­mi­gen Nach­fah­ren der ers­ten »Gast­ar­bei­ter­ge­nera­ti­on« zustän­dig zu sein. Die reli­giö­sen Dienst­leis­tun­gen des Ver­ban­des wer­den vor allem als Instru­ment zur För­de­rung des tür­ki­schen Sprach­er­halts und der Kul­tur­pfle­ge ver­stan­den.

Bei der Isla­mi­schen Gemein­schaft Mil­li Görüş (IGMG) mani­fes­tiert sich die ideo­lo­gi­sche Prä­gung und die Ver­an­ke­rung der eige­nen insti­tu­tio­nel­len Wur­zeln im isla­mis­ti­schen Milieu der tür­ki­schen Poli­tik im Namen, im Daseins­zweck und in der ideo­lo­gi­schen Aus­rich­tung auf ihre Grün­der­fi­gur Nec­mett­in Erbak­an, des­sen isla­mis­ti­sches Welt­bild bis heu­te die Basis des Ver­ban­des ent­schei­dend prägt. Eine frei­heit­li­che, plu­ra­lis­ti­sche Gesell­schafts­ord­nung steht im Wider­spruch zur Ideo­lo­gie Erbak­ans.

Im Zen­tral­rat der Mus­li­me in Deutsch­land (ZMD) wie­der­um wird die dem Ver­band zuge­schrie­be­ne Eigen­schaft, Reli­gi­ons­ge­mein­schaft zu sein, im Wesent­li­chen durch die ATIB ver­mit­telt, die Uni­on der Tür­kisch-Isla­mi­schen Kul­tur­ver­ei­ne in Euro­pa. Die­se wird von den Ver­fas­sungs­schutz­be­hör­den der rechts­extre­mis­ti­schen tür­ki­schen Bewe­gung der Grau­en Wöl­fe (»Ülkücü«-Bewegung) zugerechnet.[3] ATIB gehört seit den spä­ten 1980er Jah­ren zu den Grün­dungs­mit­glie­dern des ZMD und ist geprägt durch eine natio­na­lis­ti­sche, völ­ki­sche und pan­tür­ki­sche Ideo­lo­gie. Bis zu ihrem Aus­schluss Anfang 2022 gehör­te auch die Deut­sche Mus­li­mi­sche Gemein­schaft (DMG) zu den ein­fluss­reichs­ten (Gründungs-)Mitgliedern des ZMD. Die DMG wird seit vie­len Jah­ren vom Ver­fas­sungs­schutz beob­ach­tet und als »wich­tigs­te und zen­tra­le Orga­ni­sa­ti­on« der Anhän­ger der Mus­lim­bru­der­schaft in Deutsch­land betrachtet.[4]

Die­se zah­len­mä­ßig größ­ten und das öffent­li­che Bild der Mus­li­me in Deutsch­land bis­her am stärks­ten prä­gen­den Ver­bän­de wei­sen eine ideo­lo­gi­sche Kon­ti­nui­tät auf, in der die mus­li­mi­sche Exis­tenz in Deutsch­land als eine von außen bedroh­te Wagen­burg, als eine mus­li­mi­sche Fes­tung, umge­ben von einer nicht­mus­li­mi­schen Gesell­schaft, cha­rak­te­ri­siert wird. Ihr Reli­gi­ons­ver­ständ­nis und damit auch ihr insti­tu­tio­nel­les Selbst­ver­ständ­nis ist geprägt von dem Wunsch nach Bewah­rung und Ver­tei­di­gung die­ser mus­li­mi­schen Exis­tenz gegen­über einem mehr­heit­lich nicht­mus­li­mi­schen Umfeld. Der Lebens­ort Deutsch­land war, ist und bleibt für sie dau­er­haft »Frem­de«.

Per­p­etu­ie­rung der Selbst­ent­frem­dung

Die­se bewuss­te und durch jeweils unter­schied­li­che ideo­lo­gi­sche – natio­na­lis­ti­sche, eth­ni­sche, isla­mis­ti­sche – Ein­flüs­se domi­nier­te Selbst­ent­frem­dung steht vor der Her­aus­for­de­rung, ihre Über­zeu­gungs- und Anzie­hungs­kraft für die nach­fol­gen­den mus­li­mi­schen Gene­ra­tio­nen erhal­ten zu müs­sen. Und genau hier öff­net sich die Flan­ke der mus­li­mi­schen Ver­bän­de: Sie wer­den anschluss­fä­hig für expli­zit isla­mis­ti­sche Erzäh­lun­gen und leis­ten so einer isla­mis­ti­schen Radi­ka­li­sie­rung von Mus­li­min­nen und Mus­li­men Vor­schub. Ihr Ange­bot einer zur Iden­ti­tät geron­ne­nen Glau­bens­zu­ge­hö­rig­keit erreicht jun­ge Mus­li­me zwangs­läu­fig in Kon­kur­renz zu ihrer kon­kre­ten Lebens­er­fah­rung in einer frei­en und demo­kra­ti­schen Gesell­schaft.

Dies geschieht in posi­ti­ver wie in nega­ti­ver Hin­sicht: Der nega­ti­ve Appell kon­zen­triert sich auf die Dis­kri­mi­nie­rungs- und Benach­tei­li­gungs­er­fah­run­gen jun­ger Mus­li­min­nen und Mus­li­me. Die deut­sche Gesell­schaft wird als mus­lim­feind­li­ches Milieu beschrie­ben. Die Benach­tei­li­gung von Mus­li­men ist hier weni­ger ein recht­li­ches oder sozia­les Pro­blem, das im Bünd­nis mit den nicht­mus­li­mi­schen demo­kra­ti­schen Kräf­ten in die­ser Gesell­schaft über­wun­den wer­den könn­te. Sie wird viel­mehr als wesens­ty­pi­sche, unver­än­der­ba­re, qua­si schick­sal­haf­te Eigen­schaft der deut­schen Gesell­schaft dar­ge­stellt, wobei »deutsch« als Syn­onym für »mus­lim­feind­lich« oder »unis­la­misch« ver­stan­den wird. Mus­li­mi­sche Reli­gio­si­tät muss in die­sem Ver­ständ­nis gegen »die Deut­schen« ver­tei­digt und bewahrt wer­den. Die­ser Auf­ga­be ist das mus­li­mi­sche Indi­vi­du­um jedoch allein nicht gewach­sen. Es braucht den Rück­halt und die Stär­ke des mus­li­mi­schen Kol­lek­tivs. An die­ser Stel­le setzt die – aus der Bin­nen­per­spek­ti­ve betrach­tet – posi­ti­ve Erzäh­lung an. In die­ser wird die eige­ne mus­li­mi­sche Wir-Grup­pe als eine der deut­schen und damit als nicht­mus­li­misch ver­stan­de­nen Gesell­schaft über­le­ge­ne Gemein­schaft beschrie­ben. Die­se Gemein­schaft wird im mus­li­mi­schen Selbst­ver­ständ­nis als eine in sozia­ler, ethisch-mora­li­scher und sitt­li­cher Hin­sicht höher­wer­ti­ge­re idea­li­siert.

Die Reli­gi­on als Quel­le eines abso­lu­ten Wahr­heits­an­spruchs sichert hier den behaup­te­ten Über­le­gen­heits­an­spruch gegen jed­we­de indi­vi­du­el­le Infra­ge­stel­lung ab. Denn die eige­nen mus­li­mi­schen Tra­di­tio­nen, Hand­lungs­an­wei­sun­gen, reli­gi­ons­prak­ti­schen Nor­men und Ritua­le kol­li­die­ren dort, wo sie als restrik­tiv emp­fun­den wer­den – oder es tat­säch­lich sind –, mit den Frei­heits­räu­men der säku­la­ren Gesell­schaft und ihrem Anspruch auf Gleich­wer­tig­keit und Gleich­be­rech­ti­gung aller Lebens­ent­wür­fe und Selbst­ver­ständ­nis­se inner­halb einer plu­ra­lis­ti­schen Gesell­schaft.

Die­ser Kon­flikt beför­dert damit jene Dyna­mi­ken, die die Über­hö­hung der eige­nen mus­li­mi­schen Gemein­schaft bis zu dem Punkt stei­gern, an dem die ver­meint­li­che äuße­re Bedro­hung durch die nicht­mus­li­mi­sche Gesell­schaft nicht mehr nur erdul­det wer­den kann, son­dern aktiv bekämpft wer­den muss. Dort, wo die mus­li­mi­schen Über­le­gen­heits­er­zäh­lun­gen gefes­tigt sind, wo sie per­p­etu­iert und ver­in­ner­licht wer­den, wird der Weg von der iso­lie­rend wir­ken­den Selbst­ent­frem­dung hin zur als Not­wen­dig­keit emp­fun­de­nen extre­mis­ti­schen Tat immer kür­zer.

Die Pro­ble­ma­tik der mus­li­mi­schen Ver­bän­de liegt also nicht in einer expli­zi­ten Feind­se­lig­keit gegen­über der nicht­mus­li­mi­schen Gesell­schaft oder einer aus­drück­li­chen Gewalt­le­gi­ti­ma­ti­on; zur Gewalt rufen sie ja nicht auf, und sie zei­gen auch kei­ne Bestre­bun­gen, die unmit­tel­bar auf die Über­win­dung der demo­kra­ti­schen Gesell­schafts- und Staats­ord­nung gerich­tet sind. Aber sie berei­ten das ideo­lo­gi­sche Feld, auf dem extre­mis­ti­sche Ideo­lo­gien leich­ter gedei­hen kön­nen, und set­zen die­sem Nähr­bo­den kei­ne mus­li­mi­sche Selbst­wahr­neh­mung ent­ge­gen, auf deren Basis eine frucht­ba­re Hin­wen­dung zur nicht­mus­li­mi­schen Gesell­schaft gelin­gen könn­te. Die Vor­stel­lung einer hybri­den Iden­ti­tät, in der die mus­li­mi­sche Facet­te mit der Zuge­hö­rig­keit zur und dem Ein­satz für die gesam­te deut­sche Gesell­schaft ver­wo­ben ist, wird inner­halb der mus­li­mi­schen Ver­bän­de mehr oder weni­ger aus­drück­lich, in jedem Fall aber kon­klu­dent zurück­ge­wie­sen. Die Exis­tenz als »deut­scher Mus­lim«, die Vor­stel­lung eines »deut­schen Islam« gilt den Ver­bän­den als Oxy­mo­ron.

Vor die­sem Hin­ter­grund kann und will es den mus­li­mi­schen Ver­bän­den nicht gelin­gen, zu for­mu­lie­ren oder gar vor­zu­le­ben, wie ein Enga­ge­ment zum Woh­le der gesam­ten Gesell­schaft, wie ein posi­ti­ves Ver­hält­nis zu den plu­ra­lis­ti­schen, frei­heit­li­chen Grund­säu­len die­ser Gesell­schaft und eine gedeih­li­che Iden­ti­fi­ka­ti­on mit der deut­schen Bevöl­ke­rung als eige­ne, aus­drück­lich mus­li­mi­sche Hal­tung aus­se­hen könn­te.

Ortho­do­xie und Isla­mis­mus

Wie könn­te ein mus­li­misch moti­vier­ter Ein­satz zum Gelin­gen des Zusam­men­le­bens in einer viel­fäl­ti­gen Gesell­schaft aus­ge­stal­tet sein? Auf die­se Fra­ge haben mus­li­mi­sche Ver­bän­de bis heu­te kei­ne Ant­wort gefun­den, und sie zei­gen auch kei­ner­lei Bestre­bun­gen, ihr Glau­bens­ver­ständ­nis und die Para­dig­men ihres gemeind­li­chen Lebens in die­sem Sin­ne zu kon­kre­ti­sie­ren.

Denn eine sol­che Ori­en­tie­rung wür­de vor­aus­set­zen, dass sie sich mit den his­to­ri­schen und tra­di­tio­nel­len Bestän­den ihrer Glau­bens­welt aus­ein­an­der­set­zen und kri­tisch bewer­ten, wel­che Grund­wer­te der mus­li­mi­schen Ortho­do­xie und der his­to­ri­schen theo­lo­gi­schen Gelehr­sam­keit einem gleich­be­rech­tig­ten Zusam­men­le­ben mit nicht­mus­li­mi­schen Grup­pen im Wege ste­hen. Sie müss­ten sich kri­tisch mit den miso­gy­nen, homo­pho­ben, anti­se­mi­ti­schen, anti­christ­li­chen, den uni­ver­sel­len Men­schen­rech­ten ent­ge­gen­ste­hen­den Inhal­ten ihrer his­to­ri­schen reli­giö­sen Wis­sens­be­stän­de aus­ein­an­der­set­zen und mit Anspruch auf Ernst­haf­tig­keit – als tat­säch­li­che und nicht nur behaup­te­te Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten – aktua­li­sier­te reli­giö­se Wahr­hei­ten gene­rie­ren. Statt­des­sen beschrän­ken sie sich auf die Bewah­rung reli­giö­ser Aus­le­gungs­er­geb­nis­se, die für eine prä­mo­der­ne Gesell­schaft, für eine homo­ge­ne Gemein­schaft ent­wi­ckelt wur­den und die auf der kon­fron­ta­ti­ven, auf Domi­nanz gegen­über ande­ren Grup­pen aus­ge­rich­te­ten Idee einer Staats- und Gesell­schafts­ord­nung von und für Mus­li­me beru­hen.

Die­ser offen­sicht­li­che Kon­flikt wird jedoch nicht zum Anlass genom­men, sol­che Aus­le­gungs­er­geb­nis­se als Pro­duk­te ihrer Zeit zu betrach­ten und sie für die Lebens­be­din­gun­gen der Gegen­wart zu erneu­ern. Die For­de­rung einer sol­chen Erneue­rung des eige­nen Glau­bens­ver­ständ­nis­ses und nach inner­mus­li­mi­scher Mei­nungs­viel­falt, die es in die­ser Fra­ge ja durch­aus gibt, wird viel­mehr als unzu­läs­si­ger Akt der Glau­bens­re­la­ti­vie­rung und als anma­ßen­de, bös­wil­li­ge Schwä­chung einer ver­meint­lich über­zeit­li­chen Fröm­mig­keit auf der Grund­la­ge eines »objek­ti­ven Islam« dele­gi­ti­miert.

Die­ses Nar­ra­tiv der mus­li­mi­schen Ver­bän­de, sie sei­en die Bewah­rer und Ver­tei­di­ger eines »objek­ti­ven Islam« im Sin­ne einer Reli­gi­on, die in der Ver­gan­gen­heit reli­giö­se Wahr­hei­ten for­mu­liert hat, die in unse­rer heu­ti­gen Zeit der Dis­kus­si­on und Mei­nungs­viel­falt inner­halb der mus­li­mi­schen Gemein­schaf­ten ent­zo­gen sei­en und ledig­lich repro­du­ziert und nach­ge­ahmt wer­den dürf­ten, ist kein rein reli­gi­ons­theo­re­ti­sches oder aka­de­mi­sches Pro­blem. Es ist der Anknüp­fungs­punkt für den Anspruch des isla­mis­ti­schen Extre­mis­mus, eben kei­ne extre­mis­ti­sche Ideo­lo­gie, son­dern authen­ti­sche, puris­ti­sche Glau­bens­treue zu sein.

Reli­giö­se Ambi­gui­tät abzu­leh­nen und die Refle­xi­on und Rela­ti­vie­rung his­to­ri­scher Aus­le­gun­gen der über­lie­fer­ten Glau­bens­quel­len als unzu­läs­sig zu betrach­ten, schließt die indi­vi­du­el­le Wahr­heits­fin­dung in reli­giö­sen Fra­gen aus. Ein indi­vi­du­el­les mus­li­mi­sches Nach­den­ken über die Fra­ge, was reli­giö­se Nor­men und Ritua­le für die eige­ne Lebens­wirk­lich­keit bedeu­ten – ob die his­to­ri­schen Ergeb­nis­se der isla­mi­schen Theo­lo­gie auch heu­te noch anwend­bar und prak­ti­zier­bar sind, ob sie als ver­al­tet zu betrach­ten sind, ob ihnen womög­lich aus­drück­lich wider­spro­chen wer­den muss, weil sie das gleich­be­rech­tig­te Zusam­men­le­ben in einer viel­fäl­ti­gen Gesell­schaft ver­hin­dern –, wird gera­de durch die mus­li­mi­schen Ver­bän­de zurück­ge­wie­sen. Denn ein sol­cher plu­ra­ler Ansatz in der Dis­kus­si­on über die reli­giö­sen Grund­be­din­gun­gen der mus­li­mi­schen Exis­tenz in Deutsch­land wird von ihnen als Infra­ge­stel­lung ihrer für sich bean­spruch­ten reli­giö­sen Auto­ri­tät begrif­fen. Die Defi­ni­ti­ons­ho­heit dar­über, was mus­li­mi­sches Leben in der deut­schen Gesell­schaft sein soll, wird durch die Ver­bän­de mono­po­li­siert.

Die­se Denk- und Glau­bens­mus­ter wei­sen eine bedenk­li­che Nähe zu den Glau­bens­vor­stel­lun­gen radi­ka­ler Grup­pen auf. Deren in den sozia­len Medi­en gera­de jun­gen Mus­li­min­nen und Mus­li­men ver­mit­tel­te isla­mis­ti­sche Sicht auf die hie­si­ge Gesell­schaft wird von der Prä­mis­se getra­gen, dass ihr Glau­be nicht mit der frei­heit­lich-demo­kra­ti­schen Grund­ord­nung ver­ein­bar sei, weil der deut­sche Staat und die­se »ungläu­bi­ge« Gesell­schaft von ihnen erwar­te­ten, dass sie sich assi­mi­lie­ren und damit ihren mus­li­mi­schen Glau­ben auf­ge­ben.

Für Isla­mis­ten grün­den reli­giö­se Kern­aus­sa­gen auf »objek­ti­ven Erkennt­nis­sen«, die als abso­lut wahr auf­ge­fasst wer­den und über die es nie­mals zwei Mei­nun­gen geben kann. Die Gewalt extre­mis­ti­schen Den­kens resul­tiert aus der feh­len­den Bereit­schaft, Mehr­deu­tig­keit und Ambi­gui­tät in der Deu­tung reli­giö­ser Inhal­te zuzu­las­sen. Für die­se Isla­mis­ten exis­tiert ein kohä­ren­tes Denk­sys­tem, in dem kein Platz ist für Wider­sprü­che und von ihren Glau­bens­sät­zen abwei­chen­de Lebens­ent­wür­fe. Die Über­zeu­gung von einer ein­zig wah­ren, einer objek­ti­ven, einer allein rich­ti­gen Glau­bens­wirk­lich­keit ebnet den Weg in die Gewalt­be­reit­schaft, weil neben die­ser ver­meint­lich objek­ti­ven reli­giö­sen Wirk­lich­keit alle ande­ren sub­jek­ti­ven Auf­fas­sun­gen kei­ne Exis­tenz­be­rech­ti­gung bean­spru­chen dür­fen.

Letzt­end­lich wird mus­li­mi­sche Reli­gio­si­tät damit zu einer iden­ti­tä­ren Zuge­hö­rig­keit, über deren Gel­tungs­an­spruch ande­re, näm­lich reli­giö­se Auto­ri­tä­ten, ent­schei­den – und löst sich so von der indi­vi­du­el­len Aneig­nung durch den Ein­zel­nen. Mus­li­mi­sche Glau­bens­über­zeu­gung ent­fernt sich damit von einer Hal­tung des Gewis­sens und der inne­ren Ein­stel­lung und wird zu einem Zuge­hö­rig­keits­merk­mal, das von äuße­ren Kri­te­ri­en abhän­gig ist.

Von die­ser Dyna­mik sind zuneh­mend auch die gesell­schaft­li­chen Dis­kur­se betrof­fen. So war nach dem Ter­ror­an­schlag der Hamas auf Isra­el am 7. Okto­ber 2023 viel­fach zu beob­ach­ten, dass die Erwar­tung einer ein­deu­ti­gen anti­is­rae­li­schen und anti­jü­di­schen Par­tei­nah­me als iden­ti­tä­rer Anker fun­gier­te. Die Hal­tung nicht nur zum Nah­ost­kon­flikt gene­rell, son­dern auch kon­kret zum Ter­ror­an­schlag der Hamas ent­wi­ckel­te sich zu einer Loya­li­täts­prü­fung für die Zuge­hö­rig­keit zu einem ver­meint­li­chen mus­li­mi­schen Kol­lek­tiv. Isla­mis­ti­sche Grup­pie­run­gen gaben eine Deu­tung der Ter­ror­an­schlä­ge im Sin­ne eines »legi­ti­men Wider­stan­des« vor, der sich ins­be­son­de­re jun­ge Mus­li­min­nen und Mus­li­me nicht ent­zie­hen konn­ten, ohne ihre Zuge­hö­rig­keit zur mus­li­mi­schen Gemein­schaft ange­zwei­felt zu sehen. Wie wirk­mäch­tig die­se radi­ka­li­sie­ren­den Ten­den­zen mitt­ler­wei­le bis tief in die eta­blier­ten Struk­tu­ren der mus­li­mi­schen Orga­ni­sa­tio­nen hin­ein­rei­chen, war an den zöger­li­chen und wider­wil­li­gen Reak­tio­nen der mus­li­mi­schen Ver­bän­de zu erken­nen, die bis zum heu­ti­gen Tag die Hamas nicht als Ter­ror­or­ga­ni­sa­ti­on bezeich­nen kön­nen, ohne den Pro­test der eige­nen Basis befürch­ten zu müs­sen.

Was tun?

Die­ser Kon­flikt ist auf abseh­ba­re Zeit nicht zu lösen. Die mus­li­mi­schen Ver­bän­de sind zu sehr von der von ihnen selbst ent­wor­fe­nen reli­giö­sen Iden­ti­täts­kon­struk­ti­on abhän­gig. Sinn und Zweck ihrer gesam­ten Exis­tenz – und damit auch jede Facet­te ihres prak­ti­schen Wir­kens – sind dar­auf aus­ge­rich­tet, mus­li­mi­sche Reli­gio­si­tät als Gegen­ent­wurf zur Zuge­hö­rig­keit zur deut­schen Gesell­schaft zu for­mu­lie­ren. Ihr ein­zi­ges öffent­li­ches The­ma ist die Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Phä­no­men der Mus­lim­feind­lich­keit – jenem The­ma also, mit dem die eige­ne Erzäh­lung von der Kon­fron­ta­ti­on mit der nicht­mus­li­mi­schen Gesell­schaft per­p­etu­iert wer­den kann. Ande­re öffent­li­che, gesamt­ge­sell­schaft­li­che The­men exis­tie­ren in der ver­band­li­chen Rea­li­tät de fac­to nicht. Über­aus anschau­lich wur­de dies am Ver­hal­ten – oder prä­zi­ser for­mu­liert: am Nicht-Ver­hal­ten – der mus­li­mi­schen Ver­bän­de im Vor­feld der jüngs­ten Bun­des­tags­wahl: Kei­ner der Ver­bän­de hielt es für nötig, eine öffent­li­che Posi­ti­on zur AfD zu for­mu­lie­ren. Die gene­rel­le Gefähr­dung der Demo­kra­tie in Deutsch­land ist für sie kein The­ma, eine Gefahr erken­nen sie ledig­lich in ihrer poten­zi­ell mus­lim­feind­li­chen Dimen­si­on. Sie sind nicht in der Lage, eine umfas­sen­de­re Per­spek­ti­ve zur demo­kra­ti­schen Zukunft die­ses Lan­des zu for­mu­lie­ren, weil sie sich von die­ser Zukunft nicht betrof­fen füh­len; ein Inter­es­se an den demo­kra­ti­schen Betei­li­gungs- und Wil­lens­bil­dungs­pro­zes­sen ist inso­weit nahe­zu nicht exis­tent. Statt­des­sen orga­ni­sie­ren mus­li­mi­sche Ver­bän­de Brun­nen­bau­pro­jek­te, Lebens­mit­tel­hil­fen oder Auf­bau­pro­jek­te im Aus­land, über­wie­gend in fer­nen asia­ti­schen oder afri­ka­ni­schen Län­dern. Die Fra­ge nach sozia­ler Gerech­tig­keit, nach Lin­de­rung der Armut oder nach kari­ta­ti­vem Enga­ge­ment für eine Ziel­grup­pe in Deutsch­land stellt sich ihnen nicht – denn die Rea­li­tät die­ser Gesell­schaft fin­det in den Räu­men der mus­li­mi­schen Ver­bän­de nicht statt.

Dies ist viel­leicht der größ­te Unter­schied zwi­schen den mus­li­mi­schen Ver­bän­den und den eta­blier­ten Kir­chen in Deutsch­land. Die Ver­bän­de stel­len den Anspruch, als Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten behan­delt und als Kör­per­schaf­ten des öffent­li­chen Rechts aner­kannt zu wer­den. Die­se Sta­tus­fra­gen stel­len für sie jedoch ledig­lich rechts­theo­re­ti­sche Begriff­lich­kei­ten dar, mit denen sie einen sozia­len Gel­tungs­an­spruch durch­set­zen wol­len, den sie inhalt­lich nicht aus­zu­fül­len in der Lage sind. Ihnen fehlt bis heu­te eine Vor­stel­lung davon, was ein sol­cher Sta­tus für sie kon­kret bedeu­tet und wie sie ihn mit Blick auf die Gesamt­ge­sell­schaft prak­tisch aus­fül­len könn­ten. In wel­cher Wei­se soll eine mus­li­mi­sche Reli­gi­ons­ge­mein­schaft in die gesam­te Gesell­schaft hin­ein­wir­ken? Die­se Fra­ge ist in der mus­li­mi­schen Ver­bands­land­schaft der­zeit kein Dis­kus­si­ons­ge­gen­stand. Denn die­ser ver­fas­sungs­recht­li­che Sta­tus dient den mus­li­mi­schen Ver­bän­den im oben beschrie­be­nen iden­ti­tä­ren, kon­fron­ta­ti­ven Selbst­ver­ständ­nis ledig­lich dazu, die staat­li­che Sphä­re zur Koope­ra­ti­on zu ver­pflich­ten, um in einer sol­chen Koope­ra­ti­on – etwa im Bereich des Reli­gi­ons­un­ter­richts an öffent­li­chen Schu­len oder der uni­ver­si­tä­ren Theo­lo­gie – das eige­ne Glau­bens­ver­ständ­nis ver­ste­ti­gen zu kön­nen. Es ist in letz­ter Kon­se­quenz kein gemein­sam gestal­ten­des Koope­ra­ti­ons­ver­ständ­nis, son­dern ein defen­si­ves.

Zwin­gend erfor­der­lich ist eine kla­re Posi­tio­nie­rung mus­li­mi­scher Ver­bän­de zu der Fra­ge, wel­ches Ver­hält­nis Mus­li­min­nen und Mus­li­me zu der hie­si­gen Gesell­schaft auf­bau­en kön­nen und sol­len. Wie kann eine mus­li­mi­sche Lebens­füh­rung die Sphä­re der eige­nen mus­li­mi­schen Ver­ge­mein­schaf­tung ver­las­sen, in die gesam­te Gesell­schaft hin­ein­wir­ken und dabei von der Inten­ti­on getra­gen sein, das Gemein­wohl zu för­dern? Wenn der demo­kra­ti­sche Staat von Vor­aus­set­zun­gen lebt, die er selbst nicht garan­tie­ren kann, wie der frü­he­re Bun­des­ver­fas­sungs­rich­ter und Rechts­phi­lo­soph Ernst-Wolf­gang Böcken­för­de einst for­mu­lier­te, wel­che Vor­aus­set­zun­gen des Gelin­gens kön­nen dann Mus­li­min­nen und Mus­li­me zu die­sem sozia­len Kapi­tal eines demo­kra­ti­schen Staa­tes bei­tra­gen?

Die­se Fra­gen gehen über eine staat­bür­ger­schaft­li­che Zuge­hö­rig­keit hin­aus. Sie rei­chen wei­ter als die Ein­for­de­rung sozia­ler Teil­ha­be­an­sprü­che. Sie ver­lan­gen eine Ant­wort dar­auf, wie ein mus­li­mi­scher Bei­trag zum Gelin­gen eines demo­kra­ti­schen Staa­tes aus­se­hen kann. Die­se Ant­wort kann kei­ne Regie­rung, kei­ne öffent­li­che Debat­te den mus­li­mi­schen Ver­bän­den dik­tie­ren. Sie müs­sen die­se Ant­wort schon aus eige­nem Antrieb und aus einer selbst emp­fun­de­nen Ver­ant­wor­tung für die­se Gesell­schaft for­mu­lie­ren. Begin­nen könn­ten sie damit, der isla­mis­ti­schen Pre­digt, wonach mus­li­mi­sches Leben nur im Kampf gegen die­se Gesell­schaft durch­ge­setzt wer­den kann, laut zu wider­spre­chen.

Fuss­no­ten

[1] Bun­des­mi­nis­te­ri­um des Innern und für Hei­mat, Isla­mis­mus http://www.bmi.bund.de/DE/themen/sicherheit/extremismus/islamismus-und-salafismus/islamismus-und-salafismus-node.html.
[2] Ebd.
[3] Vgl. Bun­des­amt für Ver­fas­sungs­schutz, Ver­fas­sungs­schutz­be­richt 2023, Ber­lin 2024, S. 281
[4] Vgl. ebd., S. 253.

Die­ser Text ist unter der Crea­ti­ve Com­mons Lizenz “CC BY-NC-ND 3.0 DE — Namens­nen­nung — Nicht-kom­mer­zi­ell — Kei­ne Bear­bei­tung 3.0 Deutsch­land” ver­öf­fent­licht. Autor: Murat Kay­man für Aus Poli­tik und Zeitgeschichte/bpb.de