Am 24. Januar 2025 hat die Dokumentationsstelle Politischer Islam (Österreich) in Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) eine Studie veröffentlicht, die neben Einblicken in die tschetschenische Gesellschaft und Geschichte eine aktuelle Analyse der Diaspora-Gemeinschaften bietet. Erhoben wurden etwa soziokulturelle, ethnonationalistische und religiöse Einstellungen, in denen oftmals die Ursachen für Radikalisierung geortet werden.
Lisa Fellhofer, Direktorin der Dokumentationsstelle Politischer Islam, sagte bei der Vorstellung der Studie: »Internationale Forschungskooperationen wie jene mit der DGAP sind für die Dokumentationsstelle wichtig, da sie es ermöglichen, über Österreich hinausreichende transnationale Strukturen angemessen zu analysieren. Mit einem Fokus auf traditionelle Familienstrukturen, Gewohnheitsrecht und Religion hat die Studie Bereiche einbezogen, denen in tschetschenischen Communities in der Diaspora eine bedeutende Rolle zukommt.«
»Sittenwächter«-Aktivitäten in der tschetschenischen Community beziehen sich neben der Scharia auf das Gewohnheitsrecht Adat.
Österreich beheimatet eine der größten tschetschenischen Diasporas in Europa. Der Anteil derjenigen, die sich jihadistischen Gruppierungen wie dem Islamischen Staat (IS) anschließen oder nach Syrien ausreisen wollten, ist in dieser Community besonders hoch. Gründe für diese Ausreisen liegen häufig im Wunsch, gegen Russland zu kämpfen, der globalen muslimischen Gemeinschaft (Umma) beizustehen oder sich einer »größeren Sache« anzuschließen. Polarisierungen innerhalb der tschetschenischen Diaspora erhöhen dabei die Anfälligkeit junger Menschen für islamistische Propaganda.
Wie die Analyse aufzeigt, beziehen sich die Jugendlichen stark auf das von vorislamischen Traditionen beeinflusste tschetschenische Gewohnheitsrecht Adat, welches streng patriarchal ausgerichtet ist. Die »Sittenwächter« fokussieren sich vor allem auf die Verhaltensweisen von Mädchen und Frauen der eigenen Community, womit versucht wird, deren Selbstbestimmungsrecht zu unterbinden. Sie richten sich ganz besonders gegen »westliche« Verhaltensformen und wollen die »tschetschenische Blutlinie« erhalten. Ein Hauptmotiv liegt laut den Studienergebnissen darin, Beziehungen und Ehen von Tschetscheninnen mit von außerhalb der Gemeinschaft stammenden Männern zu verhindern. Ihre Aktivitäten organisieren die »Sittenwächter« über relativ informelle, nicht-hierarchische dezentrale Online-Chatgruppen. Die Ursachen für diese Entwicklung liegen, wie die Studie aufzeigt, vor allem in einer Perspektivenlosigkeit der Jugendlichen und ihrer ethnonationalistischen Einstellung in Kombination mit der Instrumentalisierung der Religion als »Widerstandsideologie«.
Eine Auswahl der Schlussfolgerungen
Erstkontakt mit dem IS über das Internet bzw. soziale Medien
S. 81: In den Gesprächen berichteten fast alle Personen, unabhängig vom Geschlecht, dass sie ersten Kontakt mit dem IS über das Internet bzw. soziale Medien hatten und dieser in Form von Videos erfolgte. Teilweise wurde in diesen Videos das soziale Leben beim IS gezeigt, eine vermeintliche Leichtigkeit und Normalität, teilweise waren aber auch Enthauptungen und andere Gewaltakte des IS zu sehen.
Gefängnis als Radikalisierungsort
S. 82: Ein markanter Aspekt der in den Gesprächen beschriebenen Radikalisierungsverläufe ist der Bericht eines jungen Erwachsenen, der seinen ersten direkten Kontakt mit IS-Sympathisanten im Gefängnis schildert. Er beschreibt, dass nicht nur der erste Kontakt, sondern auch die maßgebliche Indoktrinierung der IS-Ideologie durch seine Zellengenossen stattgefunden habe.
Deradikalisierung durch Gespräche mit den Eltern und Interpretationsvielfalt
S. 82: Die zwei zentralen Aspekte, die bei den Befragten zu Distanzierung und Abkehr von der IS-Ideologie geführt hatten, sind nach deren Angaben Gespräche mit den Eltern (teilweise mit der Mutter, häufiger aber mit dem Vater) und eine intensive Auseinandersetzung mit Religion. Der Anschluss an den IS und die Sympathie für dessen Ideologie und Ziele scheint vorrangig aus der Auffassung zu resultieren, islamischen Pflichten zu entsprechen. Die Auseinandersetzung mit verschiedenen Auslegungen des Islams sowie der Besuch unterschiedlicher Moscheegemeinschaften wurden als Gründe angeführt, die zur Distanzierung von der IS-Ideologie und dem Folgen einer anderen Interpretation des Islam führten.
Radikalislamische „Sittenwächter“ mit ethno-nationalistischem Trend
S. 85: In den Gesprächen stellte sich außerdem die Motivation als bedeutsam dar, mit der „Sittenwächter“-Aktivitäten durchgeführt werden. Bei Sicherheitsbehörden wird meist angenommen, dass es sich hier um ein islamistisch-extremistisches Verhalten handle, da davon ausgegangen wird, dass die verhafteten jungen Männer ein Scharia-konformes Verhalten in der tschetschenischen Community durchsetzen wollen. In den Gesprächen innerhalb dieser Studie wurde jedoch das Bild gezeichnet, dass der Trend tschetschenischer „Sittenwächter“ nicht vorrangig auf dem Islam beruhe und in der Einschätzung der Interviewten in vielen Punkten auch nicht mit diesem vereinbar sei. So wurde argumentiert, dass es eines der Hauptinteressen von „Sittenwächtern“ in der tschetschenischen Community in Österreich sei, Beziehungen und Ehen zwischen tschetschenischen Frauen und nicht-tschetschenischen Männern zu verhindern, um „tschetschenische Blutlinien“ zu erhalten. Im Islam hingegen wäre eine Beziehung zwischen einer Tschetschenin und einem Nicht-Tschetschenen erlaubt, solange beide dem Islam angehörten. Außerdem wäre das öffentliche Bloßstellen von Sünden, zum Beispiel durch das Aufhängen von Fotos in Moscheen von Mädchen, die sich zu freizügig kleideten, etwas, das im Islam nicht erlaubt sei. Der Trend der „Sittenwächter“ wird von den interviewten Personen, die auch selbst an entsprechenden Aktivitäten beteiligt waren, als ein ethno-nationalistischer Trend beurteilt. Unklar bleibt, wie viele der tschetschenischen Sitten aus dem Islam hervorgegangen sind bzw. wie sehr beide generell in Zusammenhang stehen. […] Es lässt sich an dieser Stelle aber schlussfolgern, dass „Sittenwächter“ in der tschetschenischen Community sicherlich einem radikalen Spektrum zuzuordnen sind. Jedoch kann nicht abschließend beantwortet werden, ob sie mehrheitlich religiös oder ethno-nationalistisch und soziokulturell motiviert sind.
Gleichgewicht zwischen Beratungsansätzen und (straf-)rechtlichen Sanktionen wichtig
S. 86: Eine in Europa vornehmlich unter Sicherheitsaspekten geführte Debatte und ein stark versicherheitlichter Umgang der Politik nach langer Nichtbeachtung der Schwierigkeiten, birgt vor allem im Kontext der tschetschenischen Community große Gefahren für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Sicherheit. Deutlich wird das durch die Ausprägung und Ausbreitung gewaltvoller Phänomene wie „Jihadismus“ und potentiell gewaltvoller „Sittenwächter“. Es ist unerlässlich, den Umgang mit diesen Phänomenen in der tschetschenischen Community innerhalb einer ganzheitlichen Strategie zu implementieren, die ein angemessenes Gleichgewicht zwischen Beratungsansätzen und (straf-)rechtlichen Sanktionen findet. Die grundlegenden Motivationen, ihre Ursprünge sowie die ideologischen und kulturellen Beweggründe zu verstehen, ist ein notwendiger Bestandteil der dafür nötigen Erkenntnisse, zu denen die vorliegende Studie beitragen möchte.
Die Studie ist beim Österreichischen Fonds zur Dokumentation von religiös motiviertem politischen Extremismus (Dokumentationsstelle Politischer Islam) als PDF verfügbar: hier