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Isla­mis­mus – Was ist das über­haupt?

Bei "Islamismus" denken viele nur an Terror und Gewalt. Dabei gibt es auch Islamisten, die keine Gewalt einsetzen bei der Verfolgung ihrer Ziele. Ihre Vision eines islamischen Staats verfolgen sie dennoch hartnäckig. Von Armin Pfahl-Traughber
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Ein­lei­tung und Fra­ge­stel­lung

Seit den Anschlä­gen vom 11. Sep­tem­ber 2001 ist der Begriff “Isla­mis­mus” in der öffent­li­chen wie wis­sen­schaft­li­chen Debat­te kon­ti­nu­ier­lich prä­sent. Häu­fig wird er mit Bezeich­nun­gen wie “isla­mi­scher Fun­da­men­ta­lis­mus”, “Jiha­dis­mus” oder “radi­ka­le Mus­li­me” syn­onym ver­wen­det. Doch was damit genau gemeint ist, bleibt häu­fig unklar. Meist sol­len mit “Isla­mis­mus” sol­che fana­ti­schen und gewalt­tä­ti­gen Grup­pen mit ter­ro­ris­ti­scher Aus­rich­tung begriff­lich erfasst wer­den, die sich auf den Islam bezie­hen. Die­se Auf­fas­sung igno­riert, dass es sehr wohl auch Isla­mis­ten gibt, die nicht in der Gewalt­an­wen­dung ihr vor­ran­gi­ges poli­ti­sches Instru­ment sehen. Mit der ein­sei­ti­gen Fixie­rung auf die­sen Hand­lungs­stil beraubt man sich einer wich­ti­gen Erkennt­nis: Isla­mis­ti­sche Auf­fas­sun­gen sind aus demo­kra­tie­theo­re­ti­scher Sicht grund­sätz­lich pro­ble­ma­tisch – unab­hän­gig von einer latent oder mani­fest vor­han­de­nen Gewalt­be­reit­schaft.

Defi­ni­ti­on von Isla­mis­mus all­ge­mein

“Islamismus“ist eine Sam­mel­be­zeich­nung für alle poli­ti­schen Auf­fas­sun­gen und Hand­lun­gen, die im Namen des Islam die Errich­tung einer allein reli­gi­ös legi­ti­mier­ten Gesell­schafts- und Staats­ord­nung anstre­ben. Der ideo­lo­gi­sche Ursprung der gemein­ten Bewe­gung liegt in inner-isla­mi­schen Reform­be­stre­bun­gen in der zwei­ten Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts, die orga­ni­sa­to­ri­sche Wur­zel ist in der 1928 in Ägyp­ten gegrün­de­ten “Mus­lim­bru­der­schaft” zu sehen. Allen spä­te­ren Strö­mun­gen war und ist die Absicht eigen, den Islam nicht nur zur ver­bind­li­chen Leit­li­nie für das indi­vi­du­el­le, son­dern auch für das gesell­schaft­li­che Leben zu machen. Dies bedeu­tet: Reli­gi­on und Staat sol­len nicht mehr getrennt und der Islam insti­tu­tio­nell ver­an­kert sein. Damit ein­her geht die Ableh­nung der Prin­zi­pi­en von Indi­vi­dua­li­tät, Men­schen­rech­ten, Plu­ra­lis­mus, Säku­la­ri­tät und Volks­sou­ve­rä­ni­tät.

Hand­lungs­sti­le zwi­schen Gewalt und Poli­tik

Ent­ge­gen einer weit ver­brei­te­ten Auf­fas­sung sind kei­nes­wegs alle Isla­mis­ten grund­sätz­lich gewalt­ori­en­tiert bzw. zu ter­ro­ris­ti­schen Hand­lun­gen bereit. Ide­al­ty­pisch las­sen sich fol­gen­de vier Hand­lungs­sti­le unter­schei­den, wobei sie wie­der­um zwei Ober­grup­pen zuge­ord­net wer­den kön­nen: Gemeint sind damit gewalt­ge­neig­te und reform­ori­en­tier­te Strö­mun­gen, also ein “jiha­dis­ti­scher” und “insti­tu­tio­nel­ler Isla­mis­mus” (Bassam Tibi). Für den letzt­ge­nann­ten Bereich wären etwa Par­tei­en zu nen­nen, wel­che auf par­la­men­ta­ri­schem Weg nach erfolg­rei­chen Wah­len wir­ken wol­len. Isla­mis­ten, die mehr auf die Sozi­al­ar­beit aus­ge­rich­tet sind, geht es um die Gewin­nung von Anhän­gern durch Prä­senz im All­tags­le­ben. Bei den gewalt­ge­neig­ten bis ter­ro­ris­ti­schen Grup­pen im Isla­mis­mus unter­schei­det man zwi­schen denen, die ledig­lich in ihren Hei­mat­län­dern Gewalt­ta­ten bege­hen, und denen, die auch in ande­ren Län­dern sol­che Taten beab­sich­ti­gen. In der Rea­li­tät mischen sich mit­un­ter meh­re­re die­ser Hand­lungs­sti­le mit unter­schied­li­chen Schwer­punk­ten.

Ver­hält­nis Islam und Isla­mis­mus

Wie sich Islam und Isla­mis­mus zuein­an­der ver­hal­ten, dar­über gibt es zwei grund­sätz­lich unter­schied­li­che Auf­fas­sun­gen: Die eine Auf­fas­sung geht davon aus, dass kaum ein Unter­schied zwi­schen Islam und Isla­mis­mus bestehe, da der Islam sich als Reli­gi­on auch auf die Lebens­wei­se und damit eben­so auf die Poli­tik bezie­he. Die­se Sicht erklärt letzt­end­lich jeden Mus­lim zum Isla­mis­ten, was weder der Rea­li­tät in den west­li­chen noch in mehr­heit­lich mus­li­mi­schen Gesell­schaf­ten ent­spricht. Die ande­re Auf­fas­sung pos­tu­liert, dass Isla­mis­ten den Islam ledig­lich im eige­nen Inter­es­se instru­men­ta­li­sie­ren und daher kein Zusam­men­hang zwi­schen Islam und Isla­mis­mus bestehe. Die­se Deu­tung unter­schlägt den grund­le­gen­den Stel­len­wert der Beru­fung auf den Islam und der Iden­ti­täts­bil­dung über die­se Reli­gi­on im Isla­mis­mus. Dem­ge­gen­über soll hier für die Auf­fas­sung von der “Isla­mis­mus­kom­pa­ti­bi­li­tät des Islam” (Armin Pfahl-Traugh­ber) plä­diert wer­den, wonach die Isla­mis­ten zwar nicht die ein­zi­ge, aber eine mög­li­che Deu­tung des Islam ver­tre­ten.

Anknüp­fungs­punk­te in Basis und Geschich­te des Islam

Dazu ver­wei­sen sie auf Aus­sa­gen im Koran und die Geschich­te die­ser Reli­gi­on: Im Koran fin­den sich Aus­sa­gen, die einen Abso­lut­heits­an­spruch für den eige­nen Glau­ben und Aus­gren­zungs­ten­den­zen gegen­über Anders­gläu­bi­gen zum Aus­druck brin­gen. Hier­zu gehö­ren auch abwer­ten­de und dif­fa­mie­ren­de Wor­te über die Juden, fin­det man doch im isla­mis­ti­schen Anti­se­mi­tis­mus häu­fig ein­schlä­gi­ge Bezü­ge und Zita­te. Bereits die Früh­ge­schich­te des Islam war nach mus­li­mi­scher Über­lie­fe­rung dadurch geprägt, dass Moham­med zunächst zwar nur als Pro­phet, danach aber auch als Poli­ti­ker und Feld­herr auf­trat. Hier­aus lei­ten Isla­mis­ten die Not­wen­dig­keit ab, Reli­gi­on und Poli­tik wie­der zu ver­ei­nen, denn schon Moham­med habe die­se Ein­heit pos­tu­liert. Auch in sei­ner Nach­fol­ge wur­den Erobe­rungs­krie­ge im Namen der Reli­gi­on geführt, zunächst aus dem ara­bi­schen Raum, spä­ter dann über das Osma­ni­sche Reich bis nach Euro­pa hin­ein. Sie gel­ten Isla­mis­ten als his­to­risch-poli­ti­scher Bestand­teil ihres Islam­ver­ständ­nis­ses.

Merk­ma­le des Isla­mis­mus

Merk­mal I: Abso­lut­set­zung des Islam als Lebens- und Staats­ord­nung

Wor­in bestehen nun die inhalt­li­chen Beson­der­hei­ten der poli­ti­schen Bewe­gung des Isla­mis­mus? Als ein Merk­mal kann die Abso­lut­set­zung des Islam als Lebens- und Staats­ord­nung gel­ten. Jeder über­zeug­te Mus­lim wird in sei­ner Reli­gi­on den für ihn wah­ren Glau­ben sehen und sei­ne per­sön­li­che Lebens­füh­rung in gewis­sem Maße nach sei­ner Deu­tung des Islam aus­rich­ten. Die­se Auf­fas­sung hat, selbst wenn sie mit einem gewis­sen Exklu­siv­an­spruch auf die “ein­zig wah­re Reli­gi­on” ein­her­geht, nicht not­wen­di­ger­wei­se etwas mit Isla­mis­mus zu tun. Erst wenn die gemein­te Abso­lut­set­zung die­ses Glau­bens not­wen­di­ger Bestand­teil für die Rege­lung des sozia­len Mit­ein­an­ders in einer Gesell­schaft etwa im Sin­ne einer Rechts- oder Staats­ord­nung wer­den soll, kann von einer sol­chen poli­ti­schen Aus­rich­tung gespro­chen wer­den. Sie läuft in Kom­bi­na­ti­on mit ande­ren Grund­po­si­tio­nen der Isla­mis­ten auf die Über­win­dung einer Tren­nung von Poli­tik und Reli­gi­on und die Eta­blie­rung eines isla­mi­schen Staa­tes im theo­kra­ti­schen Sin­ne hin­aus.

Merk­mal II: Got­tes- statt Volks­sou­ve­rä­ni­tät als Legi­ti­ma­ti­ons­ba­sis

In einem sol­chen poli­ti­schen Sys­tem bestün­de die obers­te Legi­ti­ma­ti­ons­ba­sis in einer Gottes‑, aber nicht in einer Volks­sou­ve­rä­ni­tät. Aus­gangs­punkt für eine sol­che Deu­tung ist fol­gen­de Erkennt­nis: Da sich Gott nicht selbst äußern kann und die “Hei­li­gen Schrif­ten” unter­schied­li­cher Glau­bens­for­men ambi­va­lent und selek­tiv deut­bar sind, kommt in einem sol­chen theo­kra­ti­schen Staat einer Min­der­heit von “Reli­gi­ons­ge­lehr­ten” die Auf­ga­be der ein­zig rich­ti­gen und recht­lich ver­bind­li­chen Deu­tung des jewei­li­gen Glau­bens zu. Allein auf­grund die­ser Tat­sa­che läuft die Eta­blie­rung isla­mis­ti­scher Herr­schaft auf ein dik­ta­to­ri­sches Sys­tem hin­aus, das die behaup­te­te Got­tes- über die rea­le Volks­sou­ve­rä­ni­tät stellt. Die­se Auf­fas­sung muss nicht für die rigo­ro­se Ableh­nung von Wah­len ste­hen. Gleich­wohl dür­fen sich die Kan­di­da­ten oder Par­tei­en in die­ser Per­spek­ti­ve nur im ein­ge­schränk­ten Rah­men des isla­mis­ti­schen Den­kens bewe­gen, was unab­hän­gi­ge Bestre­bun­gen eben­so wie eine poli­ti­sche Oppo­si­ti­on aus­schließt.

Merk­mal III: Ganz­heit­li­che Durch­drin­gung und Steue­rung der Gesell­schaft

Ein sol­ches Gesell­schafts­mo­dell führt dazu, dass das poli­ti­sche und sozia­le Mit­ein­an­der kom­plett durch­drun­gen und gesteu­ert wird. Aus der Auf­fas­sung “Der Islam ist die Lösung” — oder bes­ser for­mu­liert: “Die isla­mis­ti­sche Deu­tung des Islam soll die Lösung sein” – folgt nicht nur die allei­ni­ge Aus­rich­tung des Staa­tes in die­sem Sin­ne. Hier­mit wür­de auch die Ableh­nung von Men­schen­rech­ten ver­bun­den sein. Mei­nungs- und Reli­gi­ons­frei­heit für alle gäbe es schließ­lich in solch einem Staat nicht. Isla­mis­ten wol­len, dass Staat, Recht und Gesell­schaft total geprägt sind von ihrer Ideo­lo­gie. In sozia­len Kon­tex­ten mit isla­mis­ti­scher Hege­mo­nie lässt sich dies etwa an der Indok­tri­na­ti­on von Kin­dern eben­so wie an Klei­dungs­vor­schrif­ten für Frau­en able­sen. Den “Reli­gi­ons­ge­lehr­ten” als angeb­li­chen Spre­chern der “Got­tes­sou­ve­rä­ni­tät” geht es nicht nur um die dik­ta­to­ri­sche Beherr­schung, son­dern auch um die poli­ti­sche Mobi­li­sie­rung der Gesell­schaft.

Merk­mal IV: Homo­ge­ne und iden­ti­tä­re Sozi­al­ord­nung im Namen des Islam

Dies läuft auf eine homo­ge­ne und iden­ti­tä­re Gesell­schafts­kon­zep­ti­on hin­aus, nach der sich alle Men­schen in einer sol­chen Sozi­al­ord­nung den poli­ti­schen Vor­ga­ben des “wah­ren Glau­bens” zu unter­wer­fen haben. Den “Reli­gi­ons­ge­lehr­ten” kommt aus der Per­spek­ti­ve die­ses kol­lek­ti­vis­ti­schen Den­kens dann auch kei­ne Bedeu­tung und kein Wert mehr als Ein­zel­per­so­nen zu, son­dern nur als Teil einer “Glau­bens­ge­mein­schaft”. In die­ser Sicht muss die Aus­rich­tung von mensch­li­chem Sozi­al­ver­hal­ten auf Auto­no­mie und Indi­vi­dua­li­tät als Abwei­chung vom Islam und dem­nach als schänd­li­cher Aus­druck von Unmo­ral und Ver­derb­nis gel­ten. Eine sol­che Auf­fas­sung schließt die Arti­ku­la­ti­on von Indi­vi­du­al- und Par­ti­ku­lar­in­ter­es­sen im Sin­ne eines gesell­schaft­li­chen Plu­ra­lis­mus aus, denn es gibt in einer als authen­tisch isla­misch gel­ten­den Gesell­schaft kei­ne Dif­fe­ren­zen zwi­schen Ein­zel­nen und Grup­pen. Gläu­bi­ge und “Reli­gi­ons­ge­lehr­te”, Regier­te und Regie­ren­de bil­den ein Kol­lek­tiv, das Indi­vi­dua­li­tät nur in begrenz­tem Maß zulässt.

Merk­mal V: Front­stel­lung gegen den demo­kra­ti­schen Ver­fas­sungs­staat

Aus den vor­he­ri­gen Aus­füh­run­gen ergibt sich auch eine Front­stel­lung der Isla­mis­ten gegen die Nor­men und Regeln eines demo­kra­ti­schen Ver­fas­sungs­staa­tes: Ihre For­de­rung nach einem isla­mi­schen Staat rich­tet sich gegen das Gebot einer Tren­nung von Poli­tik und Reli­gi­on. His­to­risch gese­hen wur­de das fried­li­che und gleich­ran­gi­ge Mit­ein­an­der von Ange­hö­ri­gen unter­schied­li­cher Glau­bens­auf­fas­sun­gen dadurch aber erst mög­lich. Die Beschwö­rung einer Got­tes­sou­ve­rä­ni­tät – als ent­schei­den­de Instanz für Poli­tik auf Basis der angeb­lich allein rich­tig inter­pre­tier­ten Bot­schaft des Glau­bens – hebt das demo­kra­ti­sche Grund­prin­zip der Volks­sou­ve­rä­ni­tät auf. Und da die Deu­tung des behaup­te­ten ein­zig wah­ren Islam eine Grup­pe von “Reli­gi­ons­ge­lehr­ten” über­neh­men soll, eine selbst­er­nann­te Eli­te, läuft dies auf die Eta­blie­rung einer Dik­ta­tur durch einen Ein­zel­nen oder eine Grup­pe hin­aus. Men­schen­rech­te oder Plu­ra­lis­mus sind in die­ser ideo­lo­gisch und reli­gi­ös homo­gen aus­ge­rich­te­ten Gesell­schaft über­flüs­sig.

Merk­mal VI: Fana­tis­mus und Gewalt­be­reit­schaft als Poten­tia­le

Die genann­ten isla­mis­ti­schen Grund­po­si­tio­nen müs­sen nicht mit der Bereit­schaft zu Gewalt und Ter­ro­ris­mus ein­her­ge­hen. Aller­dings sind in die­sem Den­ken Grund­an­nah­men ent­hal­ten, die die Gewalt­be­reit­schaft beför­dern. Hier­zu gehört die rigo­ro­se Ver­dam­mung der bestehen­den Gesell­schafts­ord­nun­gen nicht nur in den west­li­chen Län­dern. Auf­grund ihrer säku­la­ren Aus­rich­tung gel­ten sie als Lebens­welt der Unmo­ral und “Zustän­de der Unwis­sen­heit”. Da aber die Mehr­heit der Mus­li­me der­ar­ti­ge poli­ti­sche und sozia­le Sys­te­me akzep­tiert und nicht die Not­wen­dig­keit zu deren Erset­zung durch einen “Got­tes­staat” for­dert, sehen sich die Isla­mis­ten auch in der Front­stel­lung gegen die­se Gläu­bi­gen. Als eine Art selbst­er­nann­te Eli­te wol­len sie ihnen gegen­über die Alter­na­ti­ve einer isla­misch legi­ti­mier­ten Dik­ta­tur unbe­dingt durch­set­zen. Fehlt ihnen die poli­ti­sche und sozia­le Unter­stüt­zung, grei­fen Isla­mis­ten dann unter Umstän­den zum Mit­tel der Gewalt.

Isla­mis­mus als hybri­de Kate­go­rie

Wie kann man den Isla­mis­mus nun begriff­lich und inhalt­lich sinn­voll zuord­nen? Im Ver­gleich mit ande­ren poli­ti­schen Kate­go­rien zei­gen sich recht schnell Gemein­sam­kei­ten, aber auch Unter­schie­de.

Extre­mis­mus

Unter Extre­mis­mus ver­steht man alle Auf­fas­sun­gen und Hand­lun­gen, die sich gegen die Mini­mal­be­din­gun­gen eines demo­kra­ti­schen Ver­fas­sungs­staa­tes rich­ten. Bei die­ser Zuord­nung spielt eine inhalt­li­che Aus­rich­tung im Sin­ne einer bestimm­ten poli­ti­schen Ideo­lo­gie kei­ne Rol­le. Inso­fern kann es auch unter­schied­li­che For­men wie den Links- und Rechts­extre­mis­mus geben. Bei der Betrach­tung der isla­mis­ti­schen Ideo­lo­gie las­sen sich zwar bezo­gen auf die jewei­li­gen Feind­bil­der (Isra­el, USA) und Struk­tur­prin­zi­pi­en (Anti­plu­ra­lis­mus, Kol­lek­ti­vis­mus) Gemein­sam­kei­ten aus­ma­chen. Hin­sicht­lich der jewei­li­gen Prio­ri­tä­ten im Selbst­ver­ständ­nis domi­nie­ren aber Unter­schie­de zum Links- (Gleich­heit) und Rechts­extre­mis­mus (Eth­nie). Gleich­wohl könn­te man für den Isla­mis­mus durch­aus von einem “isla­mi­schen Extre­mis­mus” oder “reli­giö­sen Extre­mis­mus” als wei­te­rer Form spre­chen.

Faschis­mus

Mit­un­ter fin­det für den Isla­mis­mus auch in pole­mi­scher Absicht die For­mu­lie­rung “grü­ner Faschis­mus” Ver­wen­dung: Bestimm­te his­to­ri­sche Erfah­run­gen wie etwa die Koope­ra­ti­on des Muf­tis von Jeru­sa­lem mit den Natio­nal­so­zia­lis­ten oder unter­schied­li­che Gemein­sam­kei­ten wie Anti­se­mi­tis­mus oder Füh­rer-Den­ken schei­nen für die­se Ein­schät­zung auch gute Sach­ar­gu­men­te zu lie­fern. Der Ver­fas­ser hält die­se Ein­schät­zung aber nicht für über­zeu­gend: Beim Faschis­mus als poli­ti­scher Bewe­gung der Zeit zwi­schen den 1920er und 1940er Jah­ren in Euro­pa han­del­te es sich um ein ideo­lo­gisch, orga­ni­sa­to­risch und sozi­al ganz ande­res Phä­no­men: Eth­ni­sche Gesichts­punk­te spie­len für den Isla­mis­mus kaum eine Rol­le, wäh­rend sie für den Faschis­mus von zen­tra­ler Bedeu­tung waren. Die letzt­ge­nann­ten Bewe­gun­gen defi­nier­ten sich eher als säku­lar, wenn­gleich sie sich christ­lich-reli­gi­ös gepräg­ter Inhal­te und Ritua­le bedien­ten. Dem­ge­gen­über stellt die Beru­fung auf den Islam, den Pro­phe­ten und die Früh­ge­schich­te der Reli­gi­on den kon­sti­tu­ti­ven inhalt­li­chen Iden­ti­täts­fak­tor dar.

Fun­da­men­ta­lis­mus

Häu­fig fin­det bezo­gen auf den Isla­mis­mus auch die For­mu­lie­rung “Fun­da­men­ta­lis­mus” Ver­wen­dung: Dar­un­ter ver­steht man in einem enge­ren Sin­ne reli­giö­se Bewe­gun­gen, die sich auf eine wort­wört­li­che Aus­le­gung ihrer “Hei­li­gen Schrif­ten” bezie­hen und eine Moder­ni­sie­rung des eige­nen Glau­bens rigo­ros ableh­nen. In einem wei­te­ren Sin­ne gilt der “Fun­da­men­ta­lis­mus” als eine Sam­mel­be­zeich­nung für alle kul­tu­rel­len, poli­ti­schen, sozia­len und wirt­schaft­li­chen Auf­fas­sun­gen, wel­che sich nicht einer kri­ti­schen Prü­fung ihrer Grund­an­nah­men unter­zie­hen wol­len und argu­men­ta­ti­ve Ein­wän­de mit Ver­weis auf die eige­nen fun­da­men­ta­len Wer­te negie­ren. Der Isla­mis­mus könn­te sowohl im erst- wie im letzt­ge­nann­ten Sin­ne als eine Erschei­nungs­form des Fun­da­men­ta­lis­mus gel­ten. Umge­kehrt soll­te aber kei­ne Gleich­set­zung von “isla­mi­schem Fun­da­men­ta­lis­mus” und “Isla­mis­mus” erfol­gen. Dem erst­ge­nann­ten Bereich las­sen sich auch ortho­do­xe Islam­auf­fas­sun­gen ohne poli­ti­sche Akti­vi­tä­ten zuord­nen – womit ein kon­sti­tu­ti­ves Merk­mal von “Isla­mis­mus” fehlt.

Tota­li­ta­ris­mus

Und schließ­lich wäre noch zu erör­tern, inwie­weit der Isla­mis­mus als eine neue Form des Tota­li­ta­ris­mus gel­ten kann. Mit die­ser Bezeich­nung wird ein bestimm­ter Dik­ta­tur­typ begriff­lich erfasst, der sich sowohl von einer libe­ra­len Demo­kra­tie als auch von einer auto­ri­tä­ren Dik­ta­tur unter­schei­den lässt. Der zen­tra­le Unter­schied zum Letzt­ge­nann­ten besteht dar­in, dass es einer tota­li­tä­ren Dik­ta­tur um die brei­te Durch­drin­gung der Gesell­schaft geht und dik­ta­to­ri­sche Herr­schaft dem­nach nicht nur auf Staats­funk­tio­nen begrenzt wäre. Genau dies ist auch die Absicht von Isla­mis­ten, wol­len sie doch selbst das Pri­vat­le­ben der Men­schen in Rich­tung ihrer ideo­lo­gi­schen Auf­fas­sun­gen steu­ern. Inso­fern wäre die Bezeich­nung “tota­li­tär” auf den Isla­mis­mus anwend­bar, auch wenn der Begriff eigent­lich als Ter­mi­nus für die Staats­ebe­ne benutzt wird. Da es aber nur weni­ge isla­mis­ti­sche Staa­ten und Sys­te­me gibt, stellt die Anwen­dung des “Totalitarismus”-Begriffs ein Pro­blem dar. Bezo­gen auf die Ideo­lo­gie kann man durch­aus von einer Erschei­nungs­form des “tota­li­tä­ren Den­kens” spre­chen.

Schluss­wort und Zusam­men­fas­sung

Bei “Isla­mis­mus” geht es um eine Sam­mel­be­zeich­nung für alle poli­ti­schen Auf­fas­sun­gen und Hand­lun­gen, die im Namen des Islam die Errich­tung einer reli­gi­ös legi­ti­mier­ten Gesell­schafts- und Staats­ord­nung anstre­ben. Isla­mis­ten bedie­nen sich unter­schied­li­cher Hand­lungs­sti­le von der Par­tei­po­li­tik über die Sozi­al­ar­beit bis zum Ter­ro­ris­mus. Ihnen allen sind ver­schie­de­ne Merk­ma­le eigen:

  1. Die Abso­lut­set­zung des Islam als Lebens- und Staats­ord­nung.
  2. Der Vor­rang der Got­tes- vor der Volks­sou­ve­rä­ni­tät als Legi­ti­ma­ti­ons­ba­sis.
  3. Die ange­streb­te voll­kom­me­ne Durch­drin­gung und Steue­rung der Gesell­schaft.
  4. Die For­de­rung nach einer homo­ge­nen und iden­ti­tä­ren Sozi­al­ord­nung im Namen des Islam und
  5. die Front­stel­lung gegen die Nor­men und Regeln des moder­nen demo­kra­ti­schen Ver­fas­sungs­staa­tes.

Dies macht in der Bilanz aus dem Isla­mis­mus eine Form des reli­giö­sen Extre­mis­mus, ein Phä­no­men des poli­ti­schen Fun­da­men­ta­lis­mus und eine Vari­an­te des ideo­lo­gi­schen Tota­li­ta­ris­mus.

Lite­ra­tur

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