Die Isla­mi­sche Gemein­schaft Mil­lî Görüş (IGMG): Geschich­te, Ideo­lo­gie, Orga­ni­sa­ti­on und gegen­wär­ti­ge Situa­ti­on (Stu­die 2023)

Erstmals liegt mit der Studie der Autoren Heiko Heinisch, Hüseyin Çiçek und Jan-Markus Vömel eine umfassende Analyse (250 S.) dieser Organisation der Öffentlichkeit vor – Milli Görüş ist einer der wichtigsten Akteure des Politischen Islams in Europa.

Die Stu­die wur­de von der Doku­men­ta­ti­ons­stel­le Poli­ti­scher Islam (Öster­reich) im Jahr 2023 her­aus­ge­ge­ben. Hei­nisch, Ciçek und Vömel ana­ly­sie­ren die his­to­ri­schen und ideo­lo­gi­schen Wur­zeln die­ser Bewe­gung, die ihren Ursprung im tür­ki­schen Isla­mis­mus der 1930er und 1940er Jah­re hat, sowie ihre orga­ni­sa­to­ri­schen Struk­tu­ren, ideo­lo­gi­schen Grund­la­gen und aktu­el­len Her­aus­for­de­run­gen. Beson­de­res Augen­merk legen die Autoren auf die Ver­bin­dun­gen der IGMG zur Mus­lim­bru­der­schaft und ihre Rol­le als trans­na­tio­na­ler Akteur mit isla­mis­ti­schen gesell­schafts­po­li­ti­schen Gestal­tungs­an­sprü­chen.

Deutsch­land ist das Zen­trum der Bewe­gung in Euro­pa. Die Mil­li Görüş ist als Isla­mi­sche Gemein­schaft Mil­li Görüş (IGMG) ein seit 1995 ein­ge­tra­ge­ner Ver­ein mit Sitz in Köln und der zweit­größ­te Moschee­ver­band nach der DİTİB. Die IGMG ist Mit­glied im Islam­rat für die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land e. V. Der Islam­rat ist Grün­dungs­mit­glied des Koor­di­na­ti­ons­rats der Mus­li­me, der wie­der­um im Jahr 2007 im Rah­men der Deut­schen Islam­kon­fe­renz (DIK) gegrün­det. Die DIK wur­de vom dama­li­gen Bun­des­in­nen­mi­nis­ter Wolf­gang Schäub­le (CDU) initi­iert. In Öster­reich ist Mil­li Görüş mit den Isla­mi­schen Föde­ra­tio­nen in Öster­reich – Isla­mi­sche Föde­ra­ti­on in Wien (IFW), Aus­tria Linz Isla­mi­sche Föde­ra­ti­on (ALIF) und Avus­tu­rya İsl­am Federasyo­nu (AIF) – ver­tre­ten und bil­det hier eben­falls den zweit­größ­ten Moschee­ver­band. Außer­dem ist die Bewe­gung in Frank­reich, Bel­gi­en, den Nie­der­lan­den, der Schweiz und wei­te­ren euro­päi­schen Län­dern, ins­be­son­de­re in den Ziel­re­gio­nen ehe­ma­li­ger Anwer­be­ab­kom­men mit der Tür­kei eine fes­te Grö­ße.

Eine Aus­wahl der Schluss­fol­ge­run­gen

Zen­tra­le in Köln mit welt­wei­ter Rele­vanz

S. 221: Die von Nec­mett­in Erbak­an und einem engen Zir­kel von Mit­strei­tern geschaf­fe­ne Mil­li-Görüş-Bewe­gung, die als größ­te isla­mis­ti­sche Bewe­gung der Tür­kei gel­ten kann, hat sich im Zuge der Arbeits­mi­gra­ti­on Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jah­re auch in Euro­pa eta­bliert. Von der Zen­tra­le der Isla­mi­schen Gemein­schaft Mil­li Görüş (IGMG) in Köln aus wird heu­te ein dich­tes Netz an Ver­ei­nen und Orga­ni­sa­tio­nen in ganz Euro­pa, Nord­ame­ri­ka, Aus­tra­li­en, Kir­gi­si­stan, Japan und der Tür­kei gelei­tet.

Anti­se­mi­ti­sche ideo­lo­gi­sche Kon­ti­nui­tät

S. 225: Die im vor­lie­gen­den Bericht doku­men­tier­ten Äuße­run­gen ein­zel­ner Ima­me und Funk­tio­nä­re aus den letz­ten Jah­ren kön­nen zumin­dest als Aus­druck einer nach wie vor vor­han­de­nen isla­mis­ti­schen und anti­se­mi­ti­schen Grund­strö­mung inner­halb der IGMG gewer­tet wer­den. Sie als Ein­zel­fäl­le abzu­tun, hie­ße, eine ideo­lo­gi­sche Kon­ti­nui­tät, die die unkri­ti­sche Ver­eh­rung Erbak­ans und sei­nes Wir­kens zwangs­läu­fig inklu­diert, zu ver­ken­nen und erin­nert nicht von unge­fähr an die anti­se­mi­ti­schen „Ein­zel­fäl­le“ in eini­gen ande­ren poli­ti­schen Grup­pie­run­gen und Par­tei­en.

Star­ke Bin­dung an die tür­ki­sche Regie­rungs­par­tei AKP und Reli­gi­ons­be­hör­de Diya­net

S. 227: Für einen inhalt­li­chen Kurs­wech­sel der IGMG weg vom Isla­mis­mus, wäre eine Aus­ein­an­der­set­zung mit der eige­nen Geschich­te und dem isla­mis­ti­schen Erbe eben­so uner­läss­lich, wie eine kri­ti­sche und tabu­lo­se Betrach­tung der Per­son Erbak­ans. Bei­des ist aktu­ell inner­halb der IGMG nicht erkenn­bar. Dar­über hin­aus ste­hen die star­ke Bin­dung zur tür­ki­schen Regie­rungs­par­tei AKP sowie zur staat­li­chen tür­ki­schen Reli­gi­ons­be­hör­de Diya­net und zum Prä­si­di­um für Aus­land­s­tür­ken und ver­wand­te Gemein­schaf­ten (YTB) einer eigen­stän­di­gen ideo­lo­gi­schen Neu­aus­rich­tung der IGMG im Weg. Zwei ehe­ma­li­ge Gene­ral­se­kre­tä­re der IGMG, Mus­ta­fa Yeneroğ­lu und Oğuz Üçün­cü setz­ten ihre Kar­rie­re in den Rei­hen der AKP fort. Yeneroğ­lu schloß sich spä­ter einer Abspal­tung an; Üçün­cü wur­de als Kan­di­dat für die Par­la­ments­wah­len 2023 auf­ge­stellt.

Reform­kurs?

S. 227: Die im Rah­men der vor­lie­gen­den Unter­su­chung erho­be­nen Daten las­sen es nicht zu, zum gegen­wär­ti­gen Zeit­punkt von einem Reform­kurs der Mil­li Görüş zu spre­chen, wie es etwa Nie­der­sach­sens Ver­fas­sungs­schutz­prä­si­den­tin Maren Bran­den­bur­ger 2015 getan hat­te oder einen abneh­men­den „Extre­mis­mus­be­zug“ zu kon­sta­tie­ren, wie der deut­sche Ver­fas­sungs­schutz in sei­nem Bericht des Jah­res 2017. Die vom nie­der­säch­si­schen Ver­fas­sungs­schutz 2013 behaup­te­te, aber im Bericht nicht beleg­te Her­aus­bil­dung regio­na­ler Unter­schie­de lässt sich eben­so wenig veri­fi­zie­ren. Ganz im Gegen­teil spricht die streng hier­ar­chi­sche Struk­tur, die sich gera­de in jüngs­ter Zeit am unmit­tel­ba­ren Ein­grei­fen der Köl­ner Zen­tra­le in die Akti­vi­tä­ten des fran­zö­si­schen Ver­bands zeigt, gegen die Annah­me, dass signi­fi­kan­te regio­na­le Unter­schie­de inner­halb der Mil­li Görüş mög­lich sind. Denn es waren gera­de die Ver­su­che eines Regio­nal­ver­bands, sich im Rah­men des jewei­li­gen natio­na­len Kon­tex­tes ein eige­nes Pro­fil zu geben, die mit einer har­schen Reak­ti­on der Zen­tra­le unter­bun­den wer­den soll­ten und seit­her als Kon­flikt schwe­len, des­sen Aus­gang der­zeit noch unge­wiss ist. Auch die Vehe­menz inner-orga­ni­sa­tio­na­ler Kri­tik am auto­ri­tä­ren Geba­ren des Füh­rungs­zir­kels spricht nicht dafür, dass die Mil­li Görüş sich bis dato intern demo­kra­ti­siert hat.

Trans­na­tio­na­le Orga­ni­sa­ti­on zur Durch­set­zung isla­mis­ti­scher Norm­vor­stel­lun­gen

S. 230: Als trans­na­tio­na­le Orga­ni­sa­ti­on ist die IGMG heu­te bestrebt, abhän­gig von den jewei­li­gen recht­li­chen Mög­lich­kei­ten in allen Län­dern, in denen sie aktiv ist, in klei­nen Schrit­ten sepa­ra­te Sphä­ren zu schaf­fen, die eine „rein isla­mi­sche“ Lebens­wei­se ermög­li­chen, also letzt­lich Räu­me, in denen nach einer eige­nen nor­ma­ti­ven Ord­nung gelebt wer­den kann. Ihr aktu­el­les Haupt­an­lie­gen stellt ehe­ma­li­ge Ele­men­te einer poli­tisch-isla­mi­schen Uto­pie in den Hin­ter­grund und kreist vor allem um die Sor­ge vor einem als bedroh­lich emp­fun­de­nen Ver­lust der eige­nen Kul­tur und Reli­gi­on in einer nicht-isla­mi­schen Umge­bung. Damit ein­her geht eine Abwer­tung der übri­gen Gesell­schaft und ande­rer Lebens­ent­wür­fe. Ihre Akti­vi­tä­ten zie­len daher auch dar­auf, die sie umge­ben­de Gesell­schaft lang­fris­tig zu trans­for­mie­ren, indem ver­sucht wird, in die Gesell­schaft hin­ein­zu­wir­ken und inner-orga­ni­sa­to­ri­schen Nor­men auch nach außen Gel­tung zu ver­schaf­fen. Die Gesell­schaft soll lang­fris­tig für isla­mis­ti­sche Norm­vor­stel­lun­gen emp­fäng­lich gemacht wer­den und etwa Geschlech­ter­tren­nung, Alko­hol­ver­bot und Spei­se­ge­bo­te (bis­lang vor­nehm­lich in Schu­len und Kan­ti­nen) nicht nur akzep­tie­ren, son­dern prak­ti­zie­ren. Inso­fern folgt die IGMG auch wei­ter­hin jenen Kon­zep­ten, die isla­mis­ti­sche Vor­den­ker ent­wor­fen haben.

Was ver­ste­hen die Autoren unter »Poli­ti­scher Islam«?

Die Autoren die­ser Stu­die sub­su­mie­ren unter Poli­ti­schem Islam (oder Isla­mis­mus) das Stre­ben nach einer kol­lek­ti­vis­ti­schen poli­ti­schen Ideo­lo­gie zur Trans­for­ma­ti­on von Gesell­schaf­ten und Staa­ten hin zu einer nor­ma­ti­ven Ord­nung nach vor­geb­lich isla­mi­schen Grund­sät­zen. (S. 9–10) Im Ein­zel­nen:

- ein holis­ti­sches Ord­nungs­kon­zept, das vor­geb­lich aus isla­mi­schen Quel­len her­ge­lei­te­te Maxi­men nicht nur auf das reli­giö­se Feld anwen­det, son­dern auch auf Poli­tik, Wirt­schaft, Kul­tur und sozia­les Leben;
- Glau­be an eine „Wie­der­auf­er­ste­hung“ der isla­mi­schen Welt oder füh­ren­der isla­mi­scher Län­der in Poli­tik, Wirt­schaft, Kul­tur, Wis­sen­schaft und Mili­tär durch Besin­nung auf einen „rei­nen Islam“;
- dicho­to­me Ein­tei­lung der Welt in „Gläu­bi­ge“ und „Ungläu­bi­ge“ – in Mus­li­me und Nicht-Mus­li­me, isla­mi­sche Welt und nicht-isla­mi­sche Welt;
- Ima­gi­na­ti­on einer idea­li­sier­ten welt­wei­ten isla­mi­schen Gemein­schaft (Umma) als poli­ti­scher und ideel­ler Gemein­schaft und Wie­der­her­stel­lung von deren Macht­fül­le;
- Über­le­gen­heit des Islam gegen­über allen ande­ren Religionen/Weltanschauungen und Gesell­schafts­vor­stel­lun­gen;
- Ableh­nung von als außer­is­la­misch dekla­rier­ten Kon­zep­tio­nen von Frei­heit, libe­ra­ler Demo­kra­tie, all­ge­mei­nen Men­schen­rech­ten sowie der strik­ten Tren­nung von Reli­gi­on und Staat;
- Gleich­wer­tig­keit von Män­nern und Frau­en vor Gott, aber unter­schied­li­cher sozia­ler Sta­tus im öffent­li­chen und pri­va­ten Leben;
- Selbst­ver­ständ­nis als Opfer­ge­mein­schaft, die von Beginn der isla­mi­schen Geschich­te bis heu­te welt­wei­ten Angrif­fen aus­ge­setzt ist und hoher, iden­ti­täts­bil­den­der Stel­len­wert von Opfer­n­ar­ra­ti­ven;
- Dele­gi­ti­ma­ti­on Isra­els, das als Unrechts­staat auf isla­mi­schem Boden betrach­tet wird.

Die Stu­die ist beim Öster­rei­chi­schen Fonds zur Doku­men­ta­ti­on von reli­gi­ös moti­vier­tem poli­ti­schen Extre­mis­mus (Doku­men­ta­ti­ons­stel­le Poli­ti­scher Islam) als PDF ver­füg­bar: hier